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VG 27 A 47.92

 

VERWALTUNGSGERICHT BERLIN

 

URTEIL

Im Namen des Volkes

In der Verwaltungsstreitsache

 

Klägers,

 

Beklagten,

 

hat das Verwaltungsgericht Berlin, 27. Kammer, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juli 1994 durch

 

den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Neumann,
die Richterin am Verwaltungsgericht Müller,
die Richterin Knaisch,
die ehrenamtliche Richterin Gänsicke,
den ehrenamtlichen Richter Gruner

 

für Recht erkannt:

die Anordnung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 28. Mai/25. Juni 1991 - bezüglich der Anlage eines gemeinsamen Geh- und Radweges in der Verbindung zwischen Wendeplatte Brachvogelstraße und Zossener Straße - in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe vom 17. Dezember 1993 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines vor dem Wohnhaus des Klägers angelegten Radweges.

Am 25. September/15. Oktober 1990 gab die Straßenverkehrsbehörde des Beklagten die Durchfahrt für Radfahrer von der Zossener Straße in die Johanniterstraße frei. Hierfür wurde bis zum 15. Januar 1991 das Verkehrszeichen 244 zu § 41 Abs. 2 StVO (alt) aufgestellt.

Wegen des dagegen mit Schreiben vom 29. März 1991 eingelegten Widerspruchs des Klägers hob die Straßenverkehrsbehörde ihre Anordnung mit Bescheid vom 28. Mai 1991 auf und ordnete statt dessen zum 25. Juni 1991 einen auf dem Gehweg verlaufenden, aber optisch getrennten Radweg an. Dies geschah u.a. auch wegen der zwischenzeitlichen Entfernung eines zuvor auf dem Gehweg befindlichen Oberverteilerkastens.

Der Radweg wurde am 3. März 1992 vom Tiefbauamt Kreuzberg markiert und mit dem Verkehrszeichen 242 zu § 41 Abs. 2 StVO (alt-neu: Verkehrszeichen 237 zu § 41 Abs. 2 StVO) gekennzeichnet.

Der Gehweg ist 1,70 m breit und liegt auf der Seite des Hauseinganges Johanniterstraße 37. Der 1,25 m breite Radweg grenzt an eine seitlich befestigte Grünfläche; er ist in beide Richtungen befahrbar. Der betreffende Wegteil fällt von der erhöht gelegenen Zossener Straße zum Niveau der Brachvogelstraße ab.

Den Widerspruch des Klägers gegen die Anlegung des Radweges wies die Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe mit Bescheid vom 17. Dezember 1993 - nachdem der Kläger bereits Klage erhobenen hatte - zurück. Zur Begründung heißt es in dem Bescheid:

"Wir verweisen hierzu auf die Begründung im Beschluß des Verwaltungsgerichts Berlin, Aktenzeichen VG 25 A 375.91 vom 27. August 1991, mit dem ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 8O Abs. 2 Nr. VwGO zurückgewiesen wurde.

Insbesondere verweisen wir auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichtes in der Begründung des Beschlusses, nachdem die Ermessensentscheidung der Straßenverkehrsbehörde ohne Rechtsfehler zustande gekommen ist und daß bei Abwägung der Interessen das Interesse an einer Erleichterung des Fahrradverkehrs gegenüber Ihren Interessen als vorrangig anzusehen ist."

Zur Begründung seiner am 3. Juni 1991 erhobenen Klage trägt der Kläger vor: Der Radweg vor seiner Haustür stelle eine Gefährdung für ihn und die anderen Bewohner des Hauses Johanniterstraße 37 dar. Er könne als Schwerbehinderter (Rollstuhlfahrer) den Fußgängerweg nicht mehr ohne Belästigung benutzen; auch sei es zu mehreren Unfällen gekommen. Im übrigen sei er zu der geplanten Maßnahme von dem Beklagten nie angehört worden.

Der Kläger beantragt,

die Anordnung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 28. Mai/25. Juni 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe vom 17. Dezember 1993 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen des weiteren Sachverhalts - insbesondere der Örtlichkeit - und wegen des Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie auf die Streitakte verwiesen. Der Verwaltungsvorgang des Beklagten hat zur mündlichen Verhandlung vorgelegen.

Den zunächst von der Kammer mit Beschluß vom 18. August 1993 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragenen Rechtsstreit hat die Berichterstatterin mit Beschluß vom 7. Juli 1994 auf die Kammer zurückübertragen.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage hat Erfolg.

Die gegen die Anordnung eines gemeinsam auf dem ehemaligen Gehweg verlaufenden Geh- und eines - optisch durch Streifen getrennten - Radweges gerichtete Anfechtungsklage ist zulässig. Diese Anordnung ist ein Verwaltungsakt in der Form der Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG) mit Dauerwirkung (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Dezember 1979 - 7 C 46.78 - BVerwGE 59, 221, 225 f.), denn sie regelt eine konkrete örtliche Verkehrssituation dauerhaft in der Weise, daß der durch Verkehrszeichen und Radwegmarkierung gekennzeichnete Bürgersteig als "getrennter" Geh- und Radweg zu benutzen ist.

Dem Kläger steht auch die für eine Anfechtungsklage notwendige Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) zu. Er kann geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Zwar stellt die Ermächtigung der Straßenverkehrsbehörde zum Erlaß verkehrsregelnder Maßnahmen in § 45 StVO - Rechtsgrundlage für den angegriffenen Verwaltungsakt - auf den Schutz der Allgemeinheit und nicht auf die Wahrung der Interessen einzelner ab (vgl. BVerwG, Buchholz 442.151, § 45 StVO Nr. 9; BVerwGE 37, 112, 114). Jedoch kann der Einzelne einen - auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde begrenzten - Anspruch auf verkehrsregelndes Einschreiten, d.h. ggfs. auch auf Aufhebung von Verkehrszeichen, dann haben, wenn die Verletzung seiner öffentlich-rechtlich geschützten Individualinteressen in Betracht kommt. Hierzu gehört u.a. das Recht auf Leben und Gesundheit. Soweit eine Gefährdung derartiger Rechtsgüter in Frage steht und geltend gemacht wird, dient die Anwendung der Ermächtigung des § 45 Abs. 1 StVO nicht nur den öffentlichen Interessen, sondern zusätzlich auch dem Eigenrecht desjenigen, von dem die Gefahr abgewendet werden soll. Diese vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigte Schutzfunktion des § 45 Abs. 1 StVO (vgl. Buchholz 442.151, § 45 StVO Nr. 17 und 19, jeweils m.w.N.) muß in gleichem Umfang auch für die Aufhebung belastender Maßnahmen der Straßenverkehrsbehörde nach § 45 Abs. 1 StVO gelten (vgl. OVG Koblenz, NVwZ 1985, S. 666 f.). Ein derartiges Recht macht der Antragsteller geltend, indem er behauptet, die Einrichtung des Rad- und Gehweges vor seiner Haustür setze ihn nicht nur Belästigungen durch die Radfahrer aus, sondern gefährde ihn auch in seiner Gesundheit, denn er sei Schwerbehinderter und Rollstuhlfahrer.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger wird durch die angefochtene Anordnung in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die rechtsatzmäßigen Voraussetzungen für die vom Kläger angegriffene Maßnahme liegen vor. Die durch das Aufstellen entsprechender Verkehrsschilder und Markierung verlautbarte Anordnung eines Geh- und Radweges (§ 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO, Zeichen 237) auf dem ehemaligen Gehweg in der Verbindung zwischen Wendeplatte Brachvogelstraße und Zossener Straße findet ihre rechtliche Grundlage in § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO. Danach kann die Straßenverkehrsbehörde die Benutzung bestimmter Straßen und Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten. Anlaß für die Einrichtung des Radweges auf dem Gehweg waren Anregungen eines Fahrradverbandes, der vorgeschlagen hatte, die geschlossene Durchfahrt zwischen Johanniterstraße und Zossener Straße für Fahrradfahrer zu öffnen, um den Fahrradverkehr abseits der Hauptverkehrsstraßen zu führen. Das sind Gründe der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs, die § 45 Abs. 1 StVO für eine Regelung voraussetzt. Bei der Entscheidung, ob und wie die Behörde verkehrsregelnd eingreifen will, hat sie nach § 45 Abs. 1 StVO einen Ermessensspielraum, der gemäß § 114 VwGO nur beschränkt gerichtlich nachprüfbar ist (vgl. BVerwG, NJW 1981, S. 184, m.w.N.). Die Straßenverkehrsbehörde muß bei ihrer Entscheidung jedoch die Interessen der Anlieger gegen die Interessen der Fahrradfahrer abwägen. Im vorliegenden Fall ist der Radweg nicht geeignet, die Leichtigkeit und Sicherheit des Fahrradverkehrs zu verbessern, ohne unverhältnismäßige Gefährdungen für die Sicherheit der Anlieger zu verursachen. Der 1,25 m breite gegenläufige Radweg ist bereits objektiv rechtswidrig, denn er stellt schon aufgrund seiner zu geringen Breite eine Gefährdung für Radfahrer und Fußgänger dar. Er dient damit gerade nicht der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs, sondern beeinträchtigt diese vielmehr. Treffen nämlich zwei Radfahrer aus entgegengesetzter Richtung aufeinander, müssen diese - jedenfalls wenn sie einen Unfall auf dem Radweg vermeiden wollen - auf den Gehweg ausweichen. Dieses Problem ist dem Beklagten auch bewußt, weshalb er für gegenläufige Radwege üblicherweise eine Breite von 2,50 m vorsieht. Erschwerend kommt vorliegend hinzu, daß sich auf dem Radweg das entsprechende Verkehrszeichen, eine Straßenlaterne und tief herabhängende Zweige eines Straßenbaumes befinden, so daß jeder Radwegbenutzer - selbst wenn ihm kein Radfahrer aus der entgegengesetzten Richtung begegnet - zwangsläufig zumindest an zwei Stellen auf den Gehweg ausweichen muß. Dies erweist sich schon beim Einbiegen in die Johanniterstraße, wo sich das Verkehrszeichen befindet, als besonders problematisch. Zum einen ist der ohnehin schmale Gehweg (1,70 m vor dem Hauseingang des Klägers) an dieser Stelle noch schmaler, zum anderen kann ein von der Zossener Straße nach rechts ordnungsgemäß einbiegender Radfahrer an dieser Stelle weder Geh- noch Radweg einsehen, weil sein Blick durch das an die Ecke grenzende Wohnhaus des Klägers verstellt ist und eine Verkehrsführung für den abbiegenden Radler nicht vorhanden ist.

Aufgrund dieser Sachlage ist der Kläger als in seiner Beweglichkeit erheblich beschränkter Rollstuhlfahrer ganz besonders betroffen und folglich - aufgrund der aus seiner Behinderung rührenden besonderen Gefährdung - auch in eigenen Rechten verletzt. Ihm ist es gerade nicht möglich, einem Radfahrer schnell auszuweichen. Zwar sollen die vom Kläger behaupteten Unfälle der Behörde bislang "nicht bekannt geworden sein", es ist in der gegenwärtigen Situation jedoch nicht unwahrscheinlich, daß es zu solchen kommen wird, zumal der Kläger glaubhaft die ständige Gefährdung geschildert hatte, die auch vom anwesenden Kontaktbereichsbeamten bestätigt wurde. Abwegig erscheint es insoweit, daß der Beklagte darauf verweisen will, daß der Kläger durch ein kurzzeitiges Verweilen auf dem nicht zur Straße gehörenden Bereich des Hauseingangs hinreichende Orientierungsmöglichkeiten hat. Dies trifft jedenfalls dann nicht mehr zu, wenn der Kläger mit seinem Rollstuhl den Eingangsbereich verlassen hat. Insbesondere der zwar kurze, wegen der Überbrückung des Höhenunterschiedes für den Kläger jedoch mühsame Weg zum Gehweg der Zossener Straße stellt angesichts möglicher einbiegender Radfahrer bei der evidenten Unübersichtlichkeit der Örtlichkeit ein gravierendes Unfallrisiko dar, zumal auch - verkehrswidrig - von der Zossener Straße nach links einbiegende Radfahrer notwendigerweise (wegen des dort aufgestellten, den Radweg weiter einengenden Verkehrsschildes) auf den Gehwegbereich abgetrieben werden und zudem wegen der für sie abschüssigen Wegstrecke mit höherer Geschwindigkeit einbiegen dürften. Seltsam mutet auch der Hinweis des Beklagten darauf an, daß die Radfahrer sich angesichts der Beschaffenheit des Radweges verstärkt um die Einhaltung des Rücksichtnahmegebotes (§ 1 StVO) bemühen müßten. Abgesehen davon, daß eine allgemeine Einhaltung dieses Gebotes weitergehende verkehrsregelnde Maßnahmen weitgehend überflüssig machen würde, verkennt der Beklagte, daß die Benutzer des Radweges unterschiedliche Einsichtsfähigkeit in diese Sorgfaltspflicht besitzen. So führt der Kläger an, daß der hier streitige Verbindungsweg regelmäßig von Schulkindern auf deren Schulweg benutzt wird.

Daß der Kläger in besonders qualifizierter Weise von der Verkehrsbeschränkung betroffen ist, war für die Beklagte auch erkennbar, zumal sich der Kläger stets auf seine Körperbehinderung berufen hat.

Im übrigen ist auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig, denn er enthält keine Begründung i.S.d. § 73 Abs. 3 VwGO. Diese Vorschrift konkretisiert einen rechtsstaatlichen aus Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG folgenden Grundsatz, der den Bürger in dessen Rechte die Verwaltung eingreift, einen Anspruch darauf gibt, die hierfür maßgeblichen Gründe zu erfahren, weil er nur dann seine Rechte sachgemäß verteidigen kann. Die Begründung muß dabei die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitteilen, die die Widerspruchsbehörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben, also Sachverhalt, Rechtsgrundlage und wesentliche Subsumtionswege. Bei Ermessensentscheidungen muß die Begründung auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist, § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG. Daran fehlt es vorliegend gänzlich. Die Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe hat sich zur Begründung ihrer Widerspruchsentscheidung allein auf die Gründe des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Berlin im vorläufigen Rechtsschutzverfahren des Klägers gestützt. Eigenes Ermessen hat die Widerspruchsbehörde ersichtlich nicht ausgeübt; insbesondere ist nicht erkennbar, daß sie die Entscheidung der Straßenverkehrsbehörde auf ihre Zweckmäßigkeit hin überprüft hätte. Fehlt jedoch die Begründung oder ist sie mangelhaft, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler vor, der nach § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO zur selbständigen Aufhebung des Widerspruchsbescheides selbst dann geführt hätte, wenn sich die angefochtene Ausgangsmaßnahme als rechtmäßig erwiesen hätte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO .

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig.

Die Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Berlin, Kirchstraße 7, 10557 Berlin, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Frist für die Einlegung der Berufung endet einen Monat nach Zustellung dieses Urteils. Die Berufungsschrift muß das angefochtene Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten.

Neumann Müller Knaisch

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